Stürmische Vergangenheit in Galaxienhaufen: Röntgenblick auf Coma mit SRG/eROSITA
Galaxienhaufen sind dynamische Systeme, die durch kontinuierliche Akkretion von großen und kleinen Materieansammlungen wachsen. Dieser Akkretionsprozess sollte dazu führen, in der Verteilung der dunklen Materie innerhalb der Haufen eine reiche Substruktur und im heißen baryonischen Gas Schocks und "Kaltfronten" anzutreffen. Kürzlich lieferten mit SRG/eROSITA durchgeführte Beobachtungen einen noch nie dagewesenen Röntgenblick auf den Coma-Haufen und enthüllten dabei komplexe Signaturen des Verschmelzungprozesses, die durch numerische Simulationen vorhergesagt wurden.

Abb. 1. Röntgenbild des Coma-Haufens im 0,4-2 keV-Band, aufgenommen von eROSITA. Die Seitenlänge des Bildes beträgt ~6 Grad, was in der Entfernung des Haufens etwa 10 Mpc entspricht. Die logarithmische Farbkodierung umfasst 5 Größenordnungen. Der Haupthaufen ist gerade dabei, mit der Gruppe NGC4839 zu verschmelzen (der helle Fleck rechts unten vom Coma-Haufen).
Der Coma-Haufen (oder Abell 1656) ist ein ganz besonderer Galaxienhaufen. Er ist sehr massereich (mit Tausenden von Galaxien) und relativ nahe (weniger als 100 Mpc weit entfernt), und er ist das allererste Objekt, in dem Fritz Zwicky 1933 das Vorhandensein von Dunkler Materie nachwies. Im Radioband war er der erste Sternhaufen, in dem in den 1950er Jahren ein Radiohalo gefunden wurde. Aufgrund seiner Nähe ist Coma ein attraktives Ziel für Studien in allen Energiebändern, obwohl die enorme Winkelgröße des Haufens diese Aufgabe oft erschwert. Im Röntgenband ist das SRG-Observatorium mit den Teleskopen eROSITA und ART-XC speziell für Weitwinkelbeobachtungen ausgelegt und konnte daher den Coma-Haufen in seiner Gesamtheit erfassen.
Das Röntgenbild (siehe Abb. 1), das während der ersten beiden Rasterscan-Beobachtungen des gesamten Himmels erstellt wurde, zeigt eine Region (mit einer Ausdehnung von ~10 Mpc in der Entfernung des Haufens), die mindestens das Doppelte des Virialradius des Haufens beträgt. Neben einer Vielzahl von Quellen (meist weit entfernte Aktive Galaktische Kerne) sind zwei helle, diffuse Flecken zu erkennen, die dem Haupthaufen und der Gruppe NGC4839 (rechts unten vom Zentrum) entsprechen. Der Haufen und die Gruppe verschmelzen gerade. Tatsächlich hat NGC4839 den Kern des Haupthaufens bereits einmal durchquert und ist dabei, wieder zurückzufallen.

Abb. 2. In diesem Röntgenbild des Coma-Haufens sind schematisch einige der Merkmale markiert, die vermutlich mit der Verschmelzung mit der NGC4839-Gruppe zusammenhängen. Die blau gestrichelte Linie ist die vermutete Flugbahn der Gruppe, die aus nordöstlicher Richtung in den Coma-Haufen eintritt und sich derzeit nahe dem Apozentrum befindet. Die vermuteten Positionen von zwei Schocks, die von NGC4839 verursacht werden, sind rot und violett eingezeichnet. Der Schock, der sich näher am Zentrum befindet, wird durch das verdrängte Gas verursacht, dass wieder ins hydrostatische Gleichgewicht zurückfällt. Dies stellt das auffälligste Merkmal dar, das im Bild direkt als Abbruch in der Oberflächenhelligkeit zu sehen ist. Die grüne Linie zeigt die schwache Röntgen-"Brücke" zwischen NGC4839 und dem Haupthaufen, die eine mögliche Folge des Durchgangs der Gruppe durch den Coma-Haufen ist. Die gelbe Linie zeigt die Grenzfläche zwischen kaltem und heißem Gas mit gleichem Druck (die sogenannte Kontaktdiskontinuität).
Numerische Simulationen sagen eine Reihe von Signaturen voraus, die in diesem besonderen Stadium der Verschmelzung auftreten sollten. Der Bugschock, der von NGC4839 während seines ersten Durchgangs durch den Haupthaufen erzeugt wurde, sollte sich jetzt in den Außenbezirken des Haufens befinden, während das aus dem Kern des Haupthaufens verdrängte Gas zurückfällt und einen "sekundären" Schock bildet. Die neuen Daten, die mit SRG/eROSITA gewonnen wurden, belegen, dass die Struktur auf der rechten (westlichen) Seite des Kerns, die sich bis zu einigen Mpc erstreckt genau diesem "sekundären" Schock entspricht (siehe auch Abb.2).
Ergänzende Informationen lassen sich auch auf der Basis des Sunyaev-Zeldovich-Effekts gewinnen: Das Verhältnis des eROSITA-Röntgenbildes und des Planck-Mikrowellenbildes des Coma-Haufens liefert einen Näherungswert für die Gastemperaturkarte (Abb.3). Solche Temperaturmessungen benötigen keine spektralen Informationen im Röntgenband, wie z.B. Emissionslinien von stark ionisierten Ionen von Eisen, Nickel, etc. oder die Form des Kontinuumsspektrums. In Wirklichkeit verwendet diese Schätzung nur die "negative" Oberflächenhelligkeit des Haufens im Mikrowellenband und die Röntgenoberflächenhelligkeit im 0,4 - 2,3 KeV-Band, wo das eROSITA-Teleskop die höchste Empfindlichkeit hat. Wie im Fusionsszenario erwartet, ist der Kern des Haupthaufens heiß, während die weniger massereiche NGC4839-Gruppe einen Teil ihres kühlen Gases behalten konnte.

Eine weitere interessante Folge des Fusionsszenarios ist, dass der Radiohalo, der von dem sekundären Schock umschlossen wird, tatsächlich bereits zwei Schocks durchlaufen hat – das erste Mal den Bugschock, der von NGC4839 bei der Durchquerung des Coma-Kerns getrieben wurde, und in jüngerer Zeit den sekundären Schock. Dieser Prozess könnte die schnelle "Alterung" relativistischer Teilchen in Radiohalos abschwächen, die in vielen anderen Sternhaufen beobachtet wird – dies ist Gegenstand aktueller Forschung.
Die SRG-Raumsonde wurde von der Lavochkin-Association, Roskosmos Corporation entwickelt und am 13. Juli 2019 mit einer Proton-Trägerrakete vom Kosmodrom Baikonur gestartet. Das SRG-Observatorium wurde unter Beteiligung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) im Rahmen des russischen föderalen Raumfahrtprogramms auf Initiative der Russischen Akademie der Wissenschaften, vertreten durch ihr Institut für Weltraumforschung (IKI), gebaut. Das Observatorium trägt zwei einzigartige Röntgen-Teleskope mit streifendem Einfall: ART-XC (IKI, Russland) und eROSITA (MPE, Deutschland). Das SRG/ eROSITA-Teleskop wurde unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik (MPE) und des DLR gebaut. Die SRG-Raumsonde wird von der Lavochkin Association betrieben und die Deep Space Network Antennen in Bear Lakes, Ussurijsk und Baikonur von Roskosmos finanziert.