Optimale Messungen des kinematischen Sunyaev-Zel'dovich-Effekts spüren fehlende Materie auf

1. März 2021
Wo sind die Baryonen, die Grundbausteine aller Elemente im Periodensystem? Diese Frage stellt sich, da die vorhergesagte Häufigkeit von Baryonen im Universum nicht mit Beobachtungen des intergalaktischen Mediums übereinstimmt. Die Suche nach den fehlenden Baryonen wird uns nicht nur helfen, die Entstehung und Entwicklung von Galaxien besser zu verstehen, sondern auch mögliche Erweiterungen des derzeitigen Standardmodells der Kosmologie besser einzugrenzen. MPA-Forscher haben einen neuen Ansatz bei der Modellierung der Galaxienverteilung verwendet, um die Messungen des kinematischen Sunyaev-Zel'dovich-Effekts zu optimieren. Dieses Werkzeug könnte in Zukunft verstärkt eingesetzt werden, um die Verteilung der Baryonen in Galaxienhaufen zu untersuchen.

Bevor die Strahlung des kosmischen Mikrowellenhintergrunds (CMB), das älteste Licht im Universum, unsere Satelliten und Teleskope erreicht, passiert sie oft Galaxienhaufen, die größten gravitativ gebundenen Strukturen, die jemals beobachtet wurden. Diese massereichen Objekte sind so heiß, dass ihr Gas vollständig ionisiert ist. Die freien Elektronen in den Galaxienhaufen wechselwirken mit den Photonen des CMB über Thomson-Streuung und induzieren eine sekundäre Temperaturanisotropie auf der beobachteten Karte der CMB-Temperaturanisotropie (Abb. 1). Dieser Effekt wurde zuerst von MPA-Direktor Rashid Sunyaev zusammen mit Yakov Zel'dovich vorhergesagt, daher der Name kinematischer Sunyaev-Zel'dovich (kSZ) Effekt.

Mit neuen CMB-Experimenten, die beispiellose Empfindlichkeiten bieten, z.B. das Simons Observatory oder CMB-S4, ist der kSZ-Effekt ein interessanter Anwärter darauf, die fehlenden Baryonen aufzuspüren. Der Schlüssel zu einer präzisen, unverfälschten Messung der Baryonenhäufigkeit durch das kSZ-Signal ist die Kenntnis über die großräumige Bewegung der Materie auf sehr großen Skalen, die leider nicht aus CMB-Daten allein gewonnen werden kann.

Bisher haben Messungen des kSZ-Effekts ein stark vereinfachtes Schema der groß-skaligen Massenflüsse angenommen, das auf Informationen über die Galaxienverteilung aus spektroskopischen Himmeldurchmusterungen (mit Bestimmung der Rotverschiebung) zurückgreift. Darüber hinaus ignoriert dieser Ansatz oft die Unsicherheiten, die sich aus der Rekonstruktion der Geschwindigkeitsinformationen aus den Galaxienmessungen ergeben, und damit die Unsicherheit in daraus folgenden Häufigkeit und Verteilung der Baryonen.

Kürzlich haben die Forscher am MPA einen bedeutenden Schritt nach vorne gemacht: Sie führten eine innovative Inferenzmethode ein, bei der alle Unsicherheiten in der rekonstruierten groß-skaligen Bewegung berücksichtigt werden. Damit zeigen sie auch, dass dieser oft ignorierte systematische Fehler die daraus abgeleitete Menge an Baryonen erheblich verfälschen kann.

Die entscheidende Neuerung ist die Verwendung einer neuartigen Methode, die die heutzutage verfügbare Rechenleistung nutzt: die Bayes'sche Vorwärtsmodellierung von Galaxienhaufen. Im Wesentlichen modelliert dieser Ansatz die gesamten dreidimensionalen Materie- und Geschwindigkeitsfelder, eingeschränkt durch die Galaxiendaten. Das Ergebnis ist nicht eine, sondern viele mögliche Realisierungen von Materie- und Geschwindigkeitsfeldern, die alle physikalisch plausibel sind, wenn man die Beobachtungsdaten der Galaxien betrachtet. Dieses Ensemble von Realisierungen erlaubt es den MPA-Forschern, das Inferenzproblem neu zu formulieren und dabei alle Geschwindigkeitsunsicherheiten zu berücksichtigen, die durch unvollkommene Galaxienbeobachtungen hervorgerufen werden.

Die MPA-Wissenschaftler und ihre europäischen Kollegen haben diese innovative Methode rigoros getestet und sorgfältig auf eine CMB-Temperaturkarte angewendet, die vom Planck-Satelliten, einem von der Europäischen Weltraumorganisation betriebenen Weltraumobservatorium, beobachtet wurde. Insbesondere untersuchten sie Orte, an denen massereiche Galaxienhaufen durch den Sloan Digital Sky Survey (SDSS) identifiziert worden sind (Abb. 2). Die vom kSZ-Signal erwarteten sekundären Anisotropien sind etwa 100-mal kleiner als die Fluktuationen in den ursprünglichen CMB-Daten. Die Suche nach dem kSZ-Signal gleicht also eher der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.

Dennoch findet das Team Hinweise auf den kinematischen Sunyaev-Zel'dovich-Effekt und die fehlenden Baryonen (Abb. 3). Ein kSZ-Signal wird mit der erwarteten Amplitude gefunden, allerdings ist es nicht überraschend, dass der Beweis noch nicht schlüssig ist  mit etwa 2,3 Sigma, oder 99 Prozent Signifikanz. Diese Messung hat den derzeit genauesten Fehlerbalken, der Unsicherheiten aus dem Prozess der Geschwindigkeitsrekonstruktion berücksichtigt.

Der von den MPA-Forschern vorgestellte Algorithmus ist leicht skalierbar und lässt sich ohne weiteres auf zukünftige Datensätze anwenden. Das Ziel für die Zukunft ist klar: das volle Potenzial der kinetischen und thermischen SZ-Messungen aufzuzeigen, um nicht nur fehlende Baryonen, sondern auch die Natur der Inflation und der Dunklen Energie zu untersuchen - zwei seit langem bekannte Rätsel über das früh- und spätzeitliche Universum.

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