Hin zu einem vollständigen Modell des interstellaren Mediums

1. Mai 2019

Wissenschaftler des MPA haben zusammen mit europäischen Kollegen das interstellare Medium (ISM) in der solaren Nachbarschaft, mit allen physikalischen Prozessen der thermischen und nicht-thermischen Komponenten simuliert - ionisiertes, neutrales und molekulares Gas, Staub, interstellare Strahlung, Magnetfelder und kosmische Strahlung sowie die Entstehung neuer Sterne. Da sich die verschiedenen Prozesse stark beeinflussen zeigen die Simulationen, wie wichtig es ist alle Komponenten – insbesondere ionisierende Strahlung und kosmische Strahlung - für ein realistisches Modell des sternbildenden ISM mit einzubeziehen. Im Rahmen des SuperSILCC-Projekts des Gauss Center for Supercomputing (GCS) wird das Team SuperMUC-NG verwenden, einen der schnellsten Supercomputer der Welt, um die physikalischen Ursprünge der ISM-Struktur auch in extremen Umgebungen bei hoher Rotverschiebung aufzudecken.

Das interstellare Medium (ISM) wird traditionell als die Domäne zwischen den Sternen in Galaxien definiert. In der Tat macht dies den Großteil der beobachtbaren baryonischen Materie in galaktischen Scheiben wie der Milchstraße aus, wo Sternentstehung stattfindet und Galaxien an Größe und Masse zunehmen. Das ISM geht in den kugelförmigen galaktischen Halos - das umgebende galaktische Medium (circum galactic medium, CGM) über, das einen großen Anteil der gesamten baryonischen Masse enthalten kann. Es ist auch durch Gravitation an die Galaxien gebunden, zeigt aber keine Hinweise auf Sternentstehung. Das CGM wird mit Material versorgt, das aus dem ISM ausfließt. Ebenso wird das ISM durch Material, das aus dem CGM kühlt, wieder aufgefüllt. Ein Teil des ISM besteht aus ionisiertem, neutralem und molekularem Gas sowie Staub. Molekulares Gas findet sich typischerweise in strukturierten und kompakten Molekülwolken, in denen alle neuen Sterne in Galaxien geboren werden. Das größte Volumen des ISM ist jedoch mit neutralem und ionisiertem Gas gefüllt. Zum ISM gehört auch die interstellare Strahlung von Sternen und Kühlprozessen. Darüber hinaus sind Magnetfelder und kosmische Strahlung - typischerweise Protonen mit relativistischen Geschwindigkeiten – energetisch gleichwertige nicht-thermische Komponenten.

Es gibt eine Vielzahl physikalischer Prozesse, die die Struktur und Zusammensetzung des ISM bestimmen. Molekülwolken bilden sich durch Abkühlung und Kontraktion des magnetisierten Gases in von Staub abgeschirmten Bereichen. O- und B-Sternhaufen ionisieren und erwärmen ihre Umgebung durch UV-Strahlung und Sternwinde, die ihre Entstehungswolke teilweise zerstreuen. Am Ende ihrer Lebensdauer treiben Supernovae starke Schocks in das turbulente ISM, indem sie in expandierenden Superblasen heißes ionisiertes Gas erzeugen, das aus dem ISM entschwinden kann. Kosmische Strahlung, die in diesen Stößen erzeugt wird, interagiert mit dem Magnetfeld und erzeugt eine zusätzliche Druckkomponente, die das Gas aus dem ISM ausstößt.

Im Rahmen des SILCC-Projekts (SImulating the Life Cycle of Molecular Clouds) hatte das Team gezeigt, dass das Zusammenspiel der oben genannten Prozesse sehr komplex ist. Die Einbeziehung oder Auslassung einzelner Aspekte in Modellrechnungen kann die Eigenschaften des ISM qualitativ verändern und zu wissenschaftlich falschen Ergebnissen führen. Wenn beispielsweise das in Supernova-Explosionen erzeugte heiße Gas nicht berücksichtigt wird, führt dies zu einer unrealistischen ISM-Phasenstruktur mit nur zwei Phasen (warmes und kaltes Gas) anstelle der beobachteten drei Phasen (warmes, kaltes und heißes Gas). Der Verzicht auf Sternstrahlung und Sternwind führt zu einer zu starken Gaskühlung und Sternentstehung und wenig ionisiertem Gas. Das Vorhandensein von Magnetfeldern verzögert die Bildung dichter Strukturen. Kosmische Strahlung, die sich entlang magnetischer Felder bewegt, kann plötzlich Ausflüsse treiben, die Material aus der stellaren Scheibe in den galaktischen Halo transportieren. Es wurde deutlich, dass alle wichtigen Prozesse in hochkomplexe Computersimulationen einbezogen werden müssen, um ein umfassendes Modell des sternbildenden ISM zu entwickeln. SuperSILCC, der Nachfolger des SILCC-Projekts, zielt auf diese neue Grenze bei der numerischen Modellierung eines realistischen, turbulenten, mehrphasigen ISM ab.

Wir haben nun die ersten selbstkonsistenten ISM-Skalensimulationen eines kleinen Ausschnitts einer geschichteten galaktischen Scheibe, unter Berücksichtigung aller wichtigen thermischen und nicht-thermischen Komponenten durchgeführt: Nichtgleichgewichts-Chemie, Abkühlen und Erhitzen des staubhaltigen, magnetisierten ISM, Sternentstehung, ionisierende Strahlung und Winde von massiven Sternen, ihre Supernova-Explosionen und die Erzeugung und Ausbreitung kosmischer Strahlung. Die Simulationen zeigen, dass Strahlung, Winde und Supernova-Feedback von massiven Sternen ein turbulentes, magnetisiertes, mehrphasiges ISM mit realistischen Sternentstehungsraten für solare Nachbarschaftsbedingungen, sowie die beobachtete Struktur und die Menge an ionisiertem, neutralem und molekularem Gas erzeugen. (Abb. 1). Die Einbeziehung von kosmischer Strahlung führt zu einer zusätzlichen Erzeugung eines glatten und warmen Ausflusses, was zu einer besseren Übereinstimmung mit den Beobachtungen der Gasskalenhöhen in der galaktischen Scheibe führt (Abb. 2). Der Unterschied in den Ausströmungseigenschaften kann durch den Massenladefaktor, dem Verhältnis des Gases, welches das ISM in einem Ausfluss verlässt, zu dem Gas, das im ISM in neue Sterne bildet, quantifiziert werden. In Gegenwart von kosmischer Strahlung ist dieser aufgrund des zusätzlichen Druckgradienten viel höher (Abb. 3). Dies ist derzeit die realistischste und auch physikalisch komplexeste Simulation eines turbulenten ISM mit mehreren Phasen mit solaren Nachbarschaftsbedingungen.

Um diese Auswirkungen detaillierter zu untersuchen wurde dem SuperSILCC Team Tier-0 Supercomputing-Zeit auf SuperMUC-NG, einem der weltweit schnellsten Supercomputer (Top500) am Leibnitz Supercomputing Center (LRZ) durch das Gauss Center for Supercomputing (GCS) verliehen. Für dieses Projekt werden wir nicht nur den physikalischen Ursprung der ISM-Struktur in größeren Maßstäben und in extremen Starburst-Umgebungen bei hoher Rotverschiebung untersuchen, wir werden auch die Auswirkung der rätselhaften „Runaway“ O-Sterne simulieren, von denen beobachtet wird, dass sie ihre Geburtsorte mit Geschwindigkeiten von mehreren zehn Kilometern pro Sekunde verlassen und sich weit von der galaktischen Mittelebene entfernen, bevor sie als Supernova explodieren und das ISM mit Metallen anreichern (Fig. 4). Dieser Prozess wird in den meisten ISM-Simulationen bisher vernachlässigt und könnte die Struktur des ISM und die Entwicklung von Ausflüssen erheblich beeinflussen. T

Eric Rathjen & Thorsten Naab für das SuperSILCC-Team

Die PIs des GCS-SuperSILCC-Projekts sind: 

Philipp Girichidis - AIP, Potsdam

Tim-Eric Rathjen, Thorsten Naab - MPA, 

Stefanie Walch, Frantisek Dinnbier, Daniel Seifried - I. Physics Institute, University of Cologne, 

Richard Wünsch - Astronomical Institute, Academy of Sciences, Prague

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