Ein neuer Messstab: Abstandsmessung mit Winkeldurchmesser und Zeitverzögerung bei starken Gravitationslinsen
Seitdem Edwin Hubble 1929 entdeckte, dass sich das Universum ausdehnt, spielt die Messung kosmologischer Entfernungen eine wichtige Rolle um kosmologische Modelle überprüfen zu können. Wissenschaftler am MPA schlagen jetzt eine entscheidende Verbesserung zur Standardmaßstabmethode vor, neben den bekannten Methoden der Standardkerzen mit Objekten bekannter Leuchtstärke bzw. des Standardmaßstabs mit Objekten bekannter Größe. Dafür nutzen sie ein Gravitationslinsensystem mit einer zeitveränderlichen Quelle (z.B. einem Quasar), um den Winkeldurchmesser-Abstand von der Linse zu messen. Diese Methode eröffnet einen neuen Weg, um unser Universum zu kartieren und zu verstehen, warum sich unser Universum beschleunigt ausdehnt.
Bei der Beobachtung des Universums gibt es ein grundlegendes Problem: das 3-dimensionale Universum wird auf die 2-dimensionale Betrachtungsebene projiziert, wodurch es schwer ist, die "Tiefe" des Universums zu bestimmen (anders gesagt: es ist schwierig zu messen, wie weit ein Objekt von uns entfernt ist). Infolgedessen müssen sich die Astronomen auf indirekte Methoden verlassen, um kosmologische Entfernungen zu messen.
Hierfür gibt es zwei Methoden: Bei dem Verfahren der sogenannten "Standardkerzen" nimmt man an, dass die absolute Helligkeit eines Objekts bekannt ist. Diese wird dann mit der scheinbaren Helligkeit verglichen. So führte beispielsweise dieses Verfahren mit Typ-Ia Supernovae als Standardkerzen zur Entdeckung der beschleunigten Expansion des Universums und der Existenz der Dunklen Energie. Die andere Methode nutzt einen „Standardmaßstab“, der die scheinbare Größe eines Objekts mit seiner intrinsischen Größe vergleicht. Zum Beispiel konnten die Astronomen große Galaxiendurchmusterungen verwenden, um die so genannten „baryonischen akustischen Schwingungen“ als Standardmaßstab zu nutzen.
Allerdings haben beide bestehenden Methoden ihre Grenzen. Da wir die Vorläufer der Typ Ia-Supernovae immer noch nicht kennen, könnte diese Art der Entfernungsbestimmung durch unser physikalisches Verständnis der Supernovae begrenzt sein. Für die Messung der baryonischen akustischen Schwingungen ist ein hoher Einsatz an Ressourcen notwendig, da wir die Spektren von Millionen von Galaxien aufnehmen müssen; ein derartiges Projekt dauert viele Jahre und zig Millionen Euro. Deshalb besteht gibt es einen starken Wunsch nach anderen Standardkerzen oder Standardmaßstäben, die physikalisch gut verstanden sind und weniger Beobachtungsressourcen benötigen.
Wissenschaftler am MPA haben vor kurzem ein Verfahren wesentlich verbessert, um Gravitationslinsensysteme mit gemessenen Zeitverzögerungen zu nutzen, um die Entfernung zur Gravitationslinse abzuleiten. Die Methode wurde erstmals 2009 von Paraficz und Hjorth vorgeschlagen; seitdem wurden aber keine weiteren Untersuchungen durchgeführt. Der starke Gravitationslinseneffekt tritt dann auf, wenn sich eine massereiche Galaxie fast, aber nicht exakt, auf der Sichtlinie zu einem Hintergrund-Quasar befindet. Das von der Quelle emittierte Licht durchquert das Gravitationsfeld der Galaxie und wird dabei leicht in Richtung der Galaxie gebogen; ein Effekt der Allgemeinen Relativitätstheorie.
Auf jedes Photon, das einen unterschiedlichen Bereich der Galaxie durchquert, wirkt ein anderes Gravitationspotential. Dadurch wirkt die Galaxie wie eine optische Linse, und die Photonen mit unterschiedlichen Wegen produzieren mehrere Bilder rund um die Galaxie (siehe Abbildung 1). Da jedes Photons einen anderen Weg zum Beobachter nimmt, unterscheiden sich die Pfadlängen und damit die Ankunftszeiten der Photonen. Der Betrachter kann dann die zeitliche Verzögerung zwischen den verschiedenen Wegen messen, wenn die Quelle ihre Helligkeit mit der Zeit ändert (siehe Schema in Abbildung 2 ). Der Zeitunterschied zwischen den Bildern wird als Zeitverzögerung bezeichnet.
Die Physik hinter dieser neuen Methode ist einfach. Die gemessene Zeitverzögerung ist proportional zur Masse der Galaxie. Die gemessene Geschwindigkeitsdispersion der Galaxie verrät das Gravitationspotential der Linse. Eine Kombination dieser beiden Messungen ergibt somit die physikalische Größe der Linse: Vergleicht man die physikalische Größe der Linse, die berechnet wurde, und die Winkelgröße der Linse, die beobachtet wurde, so erhält man den Abstand zur Linse.
Die so gemessene Winkeldurchmesser-Entfernung zur Linsengalaxie kann dann mit anderen Messgrößen wie etwa der Zeitverzögerung, der Geschwindigkeitsdispersion, der Rotverschiebung der Gravitationslinse und den Positionen der Mehrfachbilder in Bezug gesetzt werden. Sie hängt außerdem davon ab, wie steil das Massenprofil der Gravitationslinse ist, das über eine Analyse der Form und Helligkeitsverteilungen der Gravitationslinse und der Mehrfachbilder bestimmt werden kann.
Ein großer Vorteil dieser neuen Methode, der von den Wissenschaftlern am MPA entdeckt wurde, besteht darin, dass sich jegliche Wirkung einer äußeren Masse aufhebt, die sich entlang der Sichtlinie zwischen dem Beobachter und der Quelle befindet - die sogenannte "externe Konvergenz". Mit anderen Worten, die Winkeldurchmesser-Entfernung ändert sich nicht durch die Anwesenheit einer äußeren Masse, die eine zusätzliche Biegung der Lichtstrahlen bewirkt. Grundsätzlich wirkt die externe Konvergenz wie eine zusätzliche Linse und trägt zur Unsicherheit bei traditionellen Entfernungsmessungen mit starken Gravitationslinsen bei. Eine gute Analogie besteht zur klassischen Optik: Es ist unmöglich, zwischen einem einzelnen Linsensystem mit einer gegebenen Brennweite und einem Mehrfachlinsensystem aus Linsen mit unterschiedlichen Brennweiten, die zusammen ein System mit der gleichen effektiven Brennweite bilden, zu unterscheiden. Ebenso können Gravitationslinsensysteme mit einer einzigen Linse und mit mehrere Linsengalaxien nicht durch die Beobachtungen unterschieden werden.
Allerdings, hängt die Winkeldurchmesser-Entfernung bei unserem Verfahren nicht von der externen Konvergenz ab, da die Zeitverzögerung und die Geschwindigkeitsverteilung allein durch die Eigenschaften der Linse bestimmt sind. Wird diese Methode auf das bestehendes Linsensystem B1608 + 656 (Abbildung 1) angewandt, so kann die Entfernung mit einer Genauigkeit von 15% gemessen werden (Abb. 3).
Dieses neue Verfahren erfordert eine genaue Abschätzung der Masse und des Gravitationspotentials des Systems aus den beobachteten Daten. Die besonderen Herausforderungen liegen dabei sowohl bei der Beobachtung als auch bei der Modellierung der Gravitationslinse: Unter der Annahme, dass die Linsengalaxie (in den meisten Fällen eine massereiche elliptische Galaxie) das dynamische Gleichgewicht erreicht hat, wirkt die zufällige Bewegung der massereichen Teilchen, aus denen die Galaxie besteht, der Schwerkraft entgegen, so dass die Galaxie weder zusammenbricht noch sich ausdehnt. Dies misst man durch die Geschwindigkeitsdispersion von Sternen in Bezug auf die Mitte der Galaxie. Die Jeans-Gleichung liefert einen Zusammenhang zwischen der radialen Komponente der Geschwindigkeitsdispersion und dem Gravitationspotential; es ist jedoch unmöglich, nur die radiale Komponente der Geschwindigkeitsdispersion zu beobachten. Die Messung beruht auf der Dopplerverschiebung des Sternenlichts. Dies bedeutet, dass nur die Komponente der Geschwindigkeitsdispersion entlang der Sichtlinie gemessen werden kann. Da man nur leuchtende Objekte (wie Sterne) messen kann, ergibt sich bei der Beobachtung eine projizierte Geschwindigkeitsdispersion, die mit der Lichtstärke gewichtet ist. Ist die Geschwindigkeitsdispersion anisotrop, so wird die Situation sogar noch komplizierter. Darüber hinaus wird die gemessene Geschwindigkeitsdispersion in der Regel über einen gewissen Öffnungswinkel gemittelt, typischerweise wenigen Zehntel Bogensekunden. Am Ende ist es also nicht ganz einfach, den Beobachtungswert mit dem Potential in Beziehung zu setzen.
Um dieser Komplikation Herr zu werden, verwenden wir ortsaufgelöste spektroskopische Daten der Linsengalaxie, um das radiale Profil der Geschwindigkeitsdispersion zu erhalten. Außerdem verwenden wir einen Radius, bei dem die Streuung zwischen verschiedenen anisotropischen Profilen minimiert wird, den sogenannten "Sweet Spot", der am MPA bereits früher von anderen Forschern abgeleitet wurde (Churazov et al.). Mit diesem Verfahren reduziert sich die Unsicherheit aus der anisotropen Geschwindigkeitsdispersion und die Bestimmung der Winkeldurchmesser-Entfernung verbessert sich auf eine Genauigkeit von nur 12%.
Diese Studie zeigt, dass mit einem System, bei dem eine Galaxie als starke Gravitationslinse wirkt und für das die Zeitverzögerungen gemessen wurden, die Winkeldurchmesser-Entfernung genau bestimmt werden kann. Dies stellt eine leistungsstarke, neue Möglichkeit zur Verfügung, unser Universum zu kartieren.
Inh Jee, Eiichiro Komatsu and Sherry H. Suyu(ASIAA)