Wie „unscharf“ darf dunkle Materie sein? - Eine Gravitationslinse gibt die Antwort
Dunkle Materie, die mehr als 80 % der Masse im Universum ausmacht, absorbiert oder emittiert kein Licht und interagiert mit Licht und normaler (baryonischer) Materie nur durch ihre Gravitation. Die Natur der dunklen Materie ist eine der wichtigsten offenen Fragen in der Astrophysik und Kosmologie. Ein theoretisches Modell für dunkle Materie, die so genannte „Fuzzy Dark Matter“ (FDM, „unscharfe“ dunkle Materie), prägt dem Licht, das um eine massereiche Galaxie gekrümmt wird (eine sogenannte Gravitationslinse), eine charakteristische Signatur auf. Durch die Analyse eines Gravitationslinsensystems, das im Radiobereich mit extrem hoher Winkelauflösung beobachtet wurde, haben wir festgestellt, wie „unscharf“ die dunkle Materie sein kann.
Auf der Suche nach der Natur der dunklen Materie sind bereits viele verschiedene theoretische Modelle vorgeschlagen worden. Die meisten davon nehmen eine neue Art fundamentaler Teilchen an, die nur durch die Schwerkraft mit anderer Materie in Wechselwirkung treten. Laut den Vorhersagen beeinflussen Teilchen mit unterschiedlichen Massen die kleinräumige Verteilung der dunklen Materie auf galaktischen Skalen. So würde eine kalte dunkle Materie (Cold Dark Matter, CDM) mit einem sehr massereichen Teilchen viele kompakte, (nach galaktischen Maßstäben) massearme Klumpen dunkler Materie erzeugen, die jede Galaxie umkreisen. Im anderen Extremfall würde ein ultraleichtes Teilchen der dunklen Materie (ULDM), das gemeinhin als Fuzzy Dark Matter“ (FDM) oder „unscharfe“ dunkle Materie bezeichnet wird, eine eher wellenförmige Verteilung der dunklen Materie in jeder Galaxie erzeugen.
Gravitationslinsen sind eine der vielversprechendsten Methoden, um die Natur der dunklen Materie zu untersuchen. Wenn das Licht einer weit entfernten Quelle um eine dazwischen liegende Linsengalaxie herum gebeugt wird, sehen wir mehrere vergrößerte und verzerrte Kopien der Quelle (siehe Abbildung 1). Die kleinräumige Verteilung der dunklen Materie, die man sich als „Textur“ in der Gravitationslinse vorstellen kann, prägt den Linsenbildern ein subtiles Signal auf. Dieses kann beobachtet werden, sofern die Beobachtung empfindlich genug ist. In einer Linsengalaxie, die FDM enthält, ist dieser Effekt vergleichbar mit einer Glasscheibe, in die ein wellenförmiges Muster eingearbeitet ist, wie z.B. bei einem Badezimmerfenster. Sie lässt das Licht durch, verzerrt aber das Bild, so dass wir nicht klar erkennen können, was sich auf der anderen Seite befindet. Indem wir nach dem Vorhandensein (oder Fehlen) solcher subtilen wellenförmigen Verzerrungen in dem Licht suchen, das durch eine Gravitationslinse fällt, können wir auf die Masse des Teilchens der dunklen Materie schließen. In Theorien über unscharfe dunkle Materie erzeugt ein leichteres Teilchen eine „unscharfe“ Linse. Wir können daher die Beobachtung einer Gravitationslinse nutzen, um die Masse des Teilchens zu bestimmen.
Die Winkelauflösung der Beobachtung, d.h. die Größe der kleinsten Merkmale, die wir am Himmel erkennen können, setzt eine Grenze, wie genau wir diese unscharfe Textur in der Dichte von Gravitationslinsen-Galaxien erkennen können. Die beste Empfindlichkeit für die Masse der dunklen Materieteilchen erhalten wir, wenn wir ein Gravitationslinsensystem mit der höchstmöglichen Winkelauflösung beobachten. Dies erreichen wir, indem wir die Signale von Radioantennen auf der ganzen Erde zusammenschalten, die VLBI-Interferometrie (Very Long Baseline Interferometry). Für diese Arbeit verwenden wir eine VLBI-Beobachtung des gravitativ gelinsten Radiojet MG J0751+2716 mit einer Winkelauflösung von nur 5 Millibogensekunden, also etwa einem Millionstel Grad. Auf den VLBI-Bildern sind die langen, dünnen Linsenbögen zu sehen, die sich perfekt für die Suche nach den kleinräumigen Gravitationsstörungen eignen, die von der unscharfen dunklen Materie verursacht werden.
Wie „unscharf“ darf dunkle Materie nun aber sein?
Wir haben viele Tausend Gravitationslinsen simuliert und dabei FDM mit unterschiedlichen Teilchenmassen der dunklen Materie einbezogen (siehe Abbildung 2). Für jedes dieser unscharfen Linsenmodelle berechnen wir die Wahrscheinlichkeit, dass die beobachteten Daten durch solch eine Linse erzeugt wurden. Durch die Berechnung von Tausenden dieser Wahrscheinlichkeiten bei vielen unterschiedlichen Teilchenmassen leiten wir die Wahrscheinlichkeit ab, dass die dunkle Materie aus einem Teilchen einer bestimmten Masse besteht, wenn die beobachteten Daten vorliegen. Ist das Linsenmodell zu unscharf, so wird das rekonstruierte Bild der Quelle physikalisch unrealistisch. Mit zunehmender Teilchenmasse erreichen wir einen Punkt, an dem die Daten eine unscharfe Linse nicht mehr von einem vollkommen glatten Linsenmodell unterscheiden können. Wir stellen fest, dass die Masse eines „Fuzzy“ Dunkle-Materie-Teilchens mit 95-prozentiger Sicherheit nicht kleiner als 4∙10-21 eV ist.
Diese Arbeit zeigt, dass hochauflösende VLBI-Beobachtungen die Natur der dunklen Materie mit Hilfe des starken Gravitationslinseneffektes untersuchen können. Die unscharfe dunkle Materie ist nur eines von vielen verschiedenen theoretischen Modellen für dunkle Materie. In zukünftigen Arbeiten werden wir VLBI-Beobachtungen von Gravitationslinsen nutzen, um andere Modelle für dunkle Materie zu überprüfen, darunter die warme dunkle Materie (WDM) und die selbst-interagierende dunkle Materie (SIDM).