Wie frühe dunkle Energie die Spannung um die Hubble-Konstante mildern könnte
Verschiedene Messungen der Hubble-Konstante, einem Maß für die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Universums, ergeben abweichende Werte. Diese Differenz, auch bekannt als „Hubble Tension“, könnte ein Hinweis auf physikalische Effekte sein, die über das Standardmodell der Kosmologie hinausgehen. Mithilfe einer komplementären Methode aus der Statistik haben Wissenschaftler am MPA mögliche neue Physik in Form eines neuen Bestandteils im frühen Universum eingegrenzt: sogenannte frühe dunkle Energie.
Das Alter unseres Universums beträgt 13,8 Milliarden Jahre — oder etwa doch nicht? Das Alter des Universums ist eng verwandt mit dem Wert der sogenannten Hubble-Konstante, der momentanen Ausdehnungsrate des Universums. Je größer die Hubble-Konstante ist, desto schneller dehnt sich das Universum aus und desto jünger ist es, wohingegen ein kleinerer Wert einem sich langsamer ausdehnenden und damit älteren Universum entspricht. In den letzten Jahrzehnten wurden Messungen der Hubble-Konstante stetig präziser und führten zu einer überraschenden Beobachtung: verschiedene Experimente ergaben verschiedene Werte der Hubble-Konstante und würden damit verschiedene Ergebnisse für das Alter des Universums liefern. Könnte diese Abweichung ein Hinweis darauf sein, dass das Standardmodell der Kosmologie durch neue physikalische Effekte erweitert werden muss?
Misst man die Geschwindigkeiten von Galaxien am Nachthimmel, so stellt man fest, dass sich die allermeisten Galaxien von unserer Galaxie, der Milchstraße, entfernen. Dies ist bekannt als das Hubble-Lemaître-Gesetz und ist ein direkter Beweis für die Ausdehnung des Universums: der leere Raum zwischen allen Galaxien bläht sich auf und damit erscheint es von der Erde aus betrachtet, als ob sich alle Galaxien von der Milchstraße fortbewegen würden. In den letzten Jahren wurden die Messungen der Galaxienbewegungen immer präziser. Hierfür verwenden Astrophysiker Supernovae vom Typ Ia, also explodierende Sterne, die so hell sind, dass sie selbst in weit entfernten Galaxien beobachtbar sind, und können so die Hubble-Konstante auf einen Wert von 73,0 km/s/Mpc mit einer Ungenauigkeit von ±1,0 km/s/Mpc eingrenzen.
Um die Hubble-Konstante auf einem alternativen Weg zu bestimmen, können sich Forscher eine noch extremere Ära in der Geschichte des Universums zunutze machen: In der Frühzeit des Universums befand sich alle Materie in einem heißen und dichten Plasma. Das Nachglühen dieses Plasmas kann noch heute als sogenannte kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung beobachtet werden, eine Momentaufnahme des jungen Universums (links in Abb. 1 dargestellt). Mithilfe hochauflösender Bilder des Mikrowellenhintergrunds kann die Zusammensetzung des Universums bestimmt werden. Die „normale“ baryonische Materie macht nur etwa 5% der Energiedichte des Universums aus; der Rest besteht aus zwei Komponenten, die bisher nicht direkt detektiert werden konnten: rund 70% dunkle Energie und 25% dunkle Materie. Benutzt man diese Zusammensetzung in den Berechnungen, kann die Hubble-Konstante als 67,4 km/s/Mpc mit einer Ungenauigkeit von ±0,5 km/s/Mpc bestimmt werden. Dieser Wert ist um circa 9% geringer als die Messung basierend auf Galaxiengeschwindigkeiten (siehe Abb. 2). Die Ursache dieser Abweichung, der „Hubble Tension“, ist bisher unbekannt und könnte ein erster Hinweis darauf sein, dass das Universum noch einen Bestandteil besitzt, der bisher nicht beobachtet wurde.
Ein Kandidat für diesen weiteren Bestandteil des Universums ist die sogenannte frühe dunkle Energie oder „Early Dark Energy“. Ähnlich wie dunkle Energie würde frühe dunkle Energie für eine beschleunigte Ausdehnung des Universums sorgen. Anders allerdings als gewöhnliche dunkle Energie gäbe es diese neue Art von Energie nur im sehr frühen Universum, noch vor Aussendung des kosmischen Mikrowellenhintergrunds. Sie würde sich schnell verflüchtigen, lange bevor sich die ersten Galaxien bildeten (siehe Abb. 1). Die Anwesenheit der frühen dunklen Energie könnte die auf dem Mikrowellenhintergrund basierenden Berechnungen so verändern, dass der Wert der Hubble-Konstante mit den Messungen der Typ-Ia-Supernovae übereinstimmen würde.
Um die Eigenschaften dieser neuen Energieform einzugrenzen, haben sich Wissenschaftler am MPA einer Methode aus der Statistik bedient, die als Profile Likelihood bekannt ist. Obwohl die Profile Likelihood häufig in der Teilchenphysik Verwendung findet, wurde sie in der Kosmologie bisher weitgehend außer Acht gelassen. Die Wissenschaftler haben nun Daten des komischen Mikrowellenhintergrunds, aufgenommen mit ESAs Planck-Satelliten, sowie Daten vom „BOSS Galaxy Survey“ verwendet. Der BOSS Galaxy Survey bestimmt die Position von Millionen von Galaxien, um die großräumige Struktur des Universums zu erforschen und damit ebenfalls Einblicke in die Zusammensetzung des Universums zu erhalten. In der Literatur herrschte jedoch Uneinigkeit darüber, wieviel frühe dunkle Energie mit diesen beiden Datensets kompatibel ist. Zwei verschiedene Forschergruppen hatten widersprüchliche Antworten auf diese Frage gefunden: die eine verwendete ein reduziertes Modell, das schwer auf die vollständige Theorie von früher dunkler Energie verallgemeinert werden kann, während die andere Gruppe die klassische statistische Methode basierend auf Markov Chain Monte Carlo (MCMC) verwendete. Letztere Methode ergab, dass nur ein sehr kleiner Anteil des Energiegehalts des Universums frühe dunkle Energie ist – nicht genug, um die Hubble Tension zu lösen.
Mithilfe der Profile Likelihood konnten die Wissenschaftler am MPA nun die Verwirrung zwischen diesen beiden Ansätzen aufklären. Sie fanden Hinweise darauf, dass die Standardmethode basierend auf MCMC von technischen Effekten, sogenannten Marginalisationseffekten, beeinflusst wird, was die Ergebnisse verfälschen kann. Der Anteil an früher dunkler Energie, den die Daten zulassen, liegt zwischen 3,6% and 10,8% (bei einem Signifikanzniveau von 68%; Abb. 3), was zu einer Linderung der Hubble Tension oder sogar zu deren Auflösung führen würde.
Die hier verwendeten Methoden ermöglichen es auch weitere kosmologische Daten ohne den Einfluss von Marginalisationseffekten zu erforschen. Dies ist nötig, um ein vollständigeres Bild zu erhalten, ob frühe dunkle Energie die Erklärung für die Hubble Tension sein könnte. Sie eröffnen so einen tieferen Einblick in die Zusammensetzung des Universums.