Schwappen und stoßen: Diagnose der Gasbewegung in Galaxienhaufen

1. April 2019

Neueste hochauflösende Mikrowellen- und Röntgenbeobachtungen des Galaxienhaufens RX J1347-1145 liefern eine neue Methode, um Gasbewegungen zu diagnostizieren. Durch die Rückschlüsse auf unterschiedliche Parameter des heißen Gases in Galaxienhaufen konnten die MPA-Wissenschaftler sanfte und heftige Bewegungen des Gases unterscheiden, die wahrscheinlich durch das Zusammentreffen mit kleineren Haufen hervorgerufen wurden.

Galaxienhaufen sind die größten gravitativ gebundenen Objekte im Universum. Etwa 15% ihrer Masse besteht aus heißem (100 Millionen Kelvin), ionisiertem Gas, dessen Druck ihre enorme Schwerkraft ausgleicht. Der Rest liegt in Form von dunkler Materie vor; Sterne aus den einzelnen Galaxien im Haufen tragen nur einen geringen Teil bei.

Heißes Gas in Galaxienhaufen kann auf zwei Arten beobachtet werden: Zum einen sendet es Röntgenstrahlung aufgrund der thermischen Bremsstrahlung aus, d.h. bei der Streuung von Elektronen und Protonen. Zweitens werden Elektronen an Photonen des kosmischen Mikrowellenhintergrunds (CMB) gestreut, wodurch die kinetische Energie des Elektrons auf die Photonen übertragen wird. Damit wird das Schwarzkörperspektrum des CMB verzerrt und Galaxienhaufen werden in dem einheitlichen Hintergrund des CMB im Mikrowellenbereich sichtbar: der sogenannte thermische Sunyaev-Zeldovich (SZ)-Effekt. Der Schlüssel: Röntgenemission sondiert die Gasdichte, da ihre Intensität proportional zur quadratischen Dichte ist, während der SZ-Effekt den thermischen Gasdruck, d.h. das Produkt aus Dichte und Temperatur, erfasst. Durch die Kombination von Röntgen- und SZ-Aufnahmen können die Wissenschaftler daher direkt die sogenannte "Zustandsgleichung" des Gases messen, d.h. die Beziehung zwischen Gasdruck und -dichte.

Galaxienhaufen stehen nicht still. Sie entstehen und wachsen kontinuierlich, indem sie Masse aus ihrer Umgebung im kosmischen Netz ansammeln. Dadurch wird heißes Gas in Haufen kontinuierlich durchmischt und gestört. Röntgenbilder zeigen dabei die Störungen, die empfindlich auf eine ungleichmäßige Dichte reagieren. Aber wie sieht es mit Störungen des Gasdrucks aus? Sanfte Bewegungen des Gases, d.h. mit Geschwindigkeiten viel kleiner als die Schallgeschwindigkeit, ändern den Druck nicht, während eine heftigere Bewegung Stoßwellen erzeugt und den Druck erhöht. Die Zustandsgleichung des gestörten Gases, gemessen anhand einer Kombination aus Röntgen- und SZ-Daten, erlaubt es uns damit, die Gasbewegung direkt abzuleiten. Die räumliche Auflösung der SZ-Daten war jedoch bisher begrenzt, da geeignete Teleskope fehlten. Mit ALMA ist es nun einem Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Eiichiro Komatsu am MPA gelungen, ein Bild des SZ-Effekts im fernen Galaxienhaufen RX J1347-1145 mit einer Auflösung von 5 Bogensekunden zu erhalten, das erstmals der Auflösung von Röntgendaten entspricht (Abbildung 1; siehe auch Pressemitteilung des MPA vom 17. März 2017).

Entfernt man die gleichmäßige Komponente, zeigt dieses Röntgenbild zwei Störungen (linkes Bild in Abbildung 2): das dipolare Muster im Zentrum ist charakteristisch für das "Schwappen" von Gas, wenn kleinere Materieklumpen auf das Gas einfallen und es stören; zudem erkennt man erhöhte Röntgenstrahlung links unten. Betrachtet man das entsprechende SZ-Bild (das rechte Bild von Abbildung 2), so findet man in der Mitte nichts. Die deutet darauf hin, dass die Schwappbewegung sanft ist und den Druck nicht verändert. Gleichzeitig finden wir in der Region links unten ein deutlich überhöhtes SZ-Signal. Dies passt zu einem Verschmelzungsszenario, bei dem Gas wahrscheinlich aufgrund eines einfallenden kleineren Haufens durch Schocks aufgeheizt wird. Möglich wurde diese Entdeckung durch die hohe räumliche Auflösung und hohe Empfindlichkeit von ALMA, die für die Messung des SZ-Effekts beispiellos sind.

Eine weitere Methode zur Charakterisierung der effektiven Zustandsgleichung für Gas, die allein Röntgendaten verwendet, wurde von Eugene Churazov und seinen Kollegen vorgeschlagen. Sie basiert darauf, die Amplituden von Gasstörungen in verschiedenen Energiebändern zu vergleichen (Abbildung 3). Da Röntgen- und SZ-Beobachtungen komplementär sind, verbessert sich dieser Ansatz erheblich, wenn auch SZ-Daten hinzugenommen werden. Kürzlich haben Wissenschaftler von MPA und ESO gemeinsam eine detaillierte Analyse von Röntgendaten und SZ-Aufnahmen sowie interferometrischen Daten dieses Haufens durchgeführt. Diese Studie unter der Leitung von Luca Di Mascolo (Doktorand am MPA) stimmt weitgehend mit den Ergebnissen der Gruppe von Komatsu überein. Darüber hinaus wird eine weniger heftige Form der Verschmelzung diskutiert, die zu den im Röntgen- und SZ-Signal beobachteten Störungen führt. In diesem Szenario kann ein Teil des in den Röntgenbildern beobachteten Signals in der Region links unten darauf zurückzuführen sein, dass kälteres Gas auf den größeren Haufen einfällt.

Das Komatsu-Team hat bereits weitere ALMA-Daten zu anderen Haufen gesammelt, die in Kürze veröffentlicht werden. Diese Datensätze eröffnen zusammen mit einer neuen Analysemethode, die von Komatsu und Churazovs Gruppen entwickelt wurde, ein neues Fenster zur Untersuchung von Gasbewegungen und dynamischen Zuständen von Galaxienhaufen.

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