50 Jahre Theoretische Astrophysik

Auszug aus der Broschüre zum 50-jährigen Jubiläum 2008

Die Gründungsjahre unter Ludwig Biermann

Das heutige Max-Planck-Institut für Astrophysik (MPA) wurde 1958 als eigenständiges Teilinstitut des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik gegründet. Erster Direktor des neuen Teilinstituts war Ludwig Biermann, der in den Jahren zuvor entscheidende Überzeugungsarbeit geleistet hatte, damit die theoretische Astrophysik eine eigene Forschungsstätte innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft bekommen konnte. Der starke Schwerpunkt auf theoretischen Fragestellungen stellte von Anfang an ein Alleinstellungsmerkmal des MPA dar: Die meisten anderen Max-Planck-Institute haben auch größere Abteilungen für experimentelle Arbeit.

Mit der Gründung ging ein Umzug einher: Nachdem die Räumlichkeiten in der früheren Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen zu knapp geworden waren, siedelten das Institut für Physik unter Leitung von Werner Heisenberg und das MPA im gleichen Jahr von Göttingen nach München um, zunächst in einen Neubau im Norden der Stadt. Das neu gegründete MPA umfasste damals vier Forschungsgruppen, geleitet jeweils von einem Wissenschaftlichen Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft: Theoretische Astrophysik (Reimar Lüst), Quantenmechanik (Eleonore Trefftz), Numerische Rechenmaschinen (Heinz Billing) und Theoretische Plasmaphysik (Arnulf Schlüter).

Die Abteilung Numerische Rechenmaschinen wandte sich in den 1970er Jahren einem völlig neuen Projekt zu, nämlich dem Versuch das berühmte Gravitationswellen-Experiment Joseph Webers von der Universität Maryland zu wiederholen. Weber war überzeugt, mit seinen Instrumenten, die aus großen Metallzylindern mit aufgeklebten hochempfindlichen Spannungsdetektoren bestanden, erstmals die Existenz von Gravitationswellen direkt nachgewiesen zu haben. Billing und seine Mitarbeiter konnten die als sensationell angesehenen Ergebnisse von Weber jedoch nicht reproduzieren, was bei der Nachweisempfindlichkeit der Detektoren von Weber und Billing aus theoretischer Sicht nicht überraschend war. Danach begann die Gruppe Billing an empfindlicheren, interferometrischen Gravitationswellendetektoren zu forschen, die im Aufbau und Betrieb eines Interferometers mit 30m Armlänge am MPA gipfelten. Diese Arbeiten des MPA waren wegweisend für die weitere Entwicklung dieser Art von Detektoren, die zunächst am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching sowie danach am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Hannnover (Albert-Einstein-Institut, eine Ausgründung des MPA 1995) fortgesetzt wurden und schließlich zum Bau des 600m Gravitationswellendetektors GEO600 führten.

Die Theoretische Plasmaphysik beschäftigte sich mit dem Verhalten ionisierter Gase, deren grundlegende Bedeutung für die Astrophysik in den vorausgegangenen Jahren deutlich geworden war. Ein wichtiges Forschungsthema bildeten von Anfang an kosmische Magnetfelder, die in Sternen, Akkretionsscheiben, Galaxien und Galaxienhaufen vorkommen. Die dazugehörigen Theorien der Plasmaphysik spielen auch eine wichtige Rolle für den Erhalt kontrollierter Kernfusion. Diese Arbeiten mündeten schließlich in der Ausgründung des ersten völlig eigenständigen Instituts aus dem Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik, der weitere folgen sollten: 1960 wurde das Institut für Plasmaphysik gegründet, das 1971 in die Max-Planck-Gesellschaft eingegliedert wurde.

Noch auf einem weiteren Gebiet vollzog sich eine Entwicklung, die schließlich zur Gründung eines eigenen Instituts führte. Ludwig Biermann hatte bereits 1950 aus der Ablenkung der Plasmaschweife von Kometen die Existenz eines von der Sonne ausgehenden Teilchenstroms, des Sonnenwindes, erschlossen. Da die Prozesse in den Kometenschweifen sehr kompliziert sind, kam der Gedanke auf, einen künstlichen Schweif zu erzeugen. Dieses Experiment war 1963 der Ausgangspunkt für die Gründung des Instituts für extraterrestrische Physik (MPE) unter Leitung von Reimar Lüst. Es widmete sich in seinen Anfangsjahren der Untersuchung extraterrestrischer Plasmen und der Magnetosphäre der Erde; in der Folgezeit entwickelten sich astrophysikalische Beobachtungen im Infrarot-, Röntgen- und Gammabereich zum Forschungsschwerpunkt des MPE.

Nach dem Weggang von Reimar Lüst übernahm Rudolf Kippenhahn die Abteilung Theoretische Astrophysik des MPA. Zu dieser Zeit wurden gerade die ersten größeren Rechenmaschinen verfügbar, mit denen Kippenhahn den Aufbau und die Entwicklung der Sterne erforschte. Es gelang ihm zusammen mit seinen Mitarbeitern Emmi Hofmeister und Alfred Weigert, international führend die wesentlichen Grundzüge der Sternentwicklung zu erkennen. Dabei benutzten sie einen neuen, von ihnen selbst geschriebenen Rechencode. 1965 wurde Rudolf Kippenhahn an die Universität Göttingen berufen, blieb aber dem Institut eng verbunden. Hermann Schmidt und Friedrich Meyer übernahmen die Leitung der Abteilung Theoretische Astrophysik am MPA.

Die Entdeckung der Mikrowellen-Hintergrundstrahlung und bisher unbekannter kosmischer Objekte wie der Quasare und Pulsare weckte in den 60er Jahren neues Interesse an Kosmologie und relativistischer Astrophysik. Mit der Berufung von Jürgen Ehlers als Wissenschaftliches Mitglied an das Institut wurde 1971 eine neue Abteilung für Relativistische Astrophysik gegründet, in der man sich mit grundlegenden Fragen der Gravitationstheorie und ihrer Anwendung auf Neutronensterne, Schwarze Löcher und Gravitationslinsen beschäftigte. Diese Forschungsrichtung mündete schließlich in der Gründung des MPI für Gravitationsphysik, und 1995 übersiedelte Jürgen Ehlers als Gründungsdirektor mit den meisten seiner Mitarbeiter nach Potsdam.

Am 1.4.1975 wurde Ludwig Biermann emeritiert. Der Gründungsdirektor des MPA, der das Institut aufgebaut und 17 Jahre lang geleitet hatte, arbeitete danach noch bis wenige Wochen vor seinem Tod am 12. Januar 1986 am MPA weiter. Für seine wegweisenden wissenschaftlichen Arbeiten wurden Biermann zahlreiche Auszeichnungen verliehen, zuletzt die Gold-Medaille der Royal Astronomical Society (1974) und, posthum, der Cospar-Award (1986).

Neue Herausforderungen und eine Krise

Rudolf Kippenhahn trat die Nachfolge Biermanns an. Er brachte einen neuen Führungsstil mit sich, indem er die Eigenständigkeit der Wissenschaftler respektierte und das individuelle Forschungsprofil über das der Gruppe stellte. Mit seinen Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Sternentwicklung und der Physik der quasistellaren Objekte begründete er eine lange Tradition am MPA.

Kippenhahns letzter Doktorand Achim Weiss trat in seine Fußstapfen und forscht bis heute am MPA über die Stern- und Doppelsternentwicklung. Zusammen mit seiner Gruppe zeigte er, wie Beobachtungen von Sternhaufen Rückschlüsse auf ihr Alter und ihre chemische Zusammensetzung erlauben. Indem sie moderne Sternentwicklungsrechnungen mit Beobachtungen sehr alter Sterne verknüpften, gelang es den Wissenschaftlern, die im Urknall erzeugte Menge Lithium zu bestimmen und daraus die Gesamtmasse gewöhnlicher Materie im Universum abzuleiten.

1978 kam Wolfgang Hillebrandt ans Institut und baute eine Gruppe für nukleare Astrophysik auf. Zusammen mit Ewald Müller begann er, Modelle für explodierende massereiche Sterne, so genannte Gravitationskollaps-Supernovae, zu entwickeln. 1985 wurde Wolfgang Hillebrandt zum Wissenschaftlichen Mitglied berufen.

Im Jahr 1979 zog das mit den Jahren merklich gewachsene Institut in ein größeres, von den Architekten Fehling und Gogel neu entworfenes Gebäude im Forschungsgelände Garching, in enger Nachbarschaft zu dem von den gleichen Architekten konzipierten Hauptquartier der Europäischen Südsternwarte (ESO). Beide Gebäude waren von den Architekten Fehling und Gogel speziell für das MPA bzw. die ESO entworfen worden. In den folgenden Jahrzehnten wuchs in Garching eines der führenden Wissenschaftszentren Europas heran, und ESO, MPA und MPE bilden heute gemeinsam die größte Zusammenballung exzellenter astrophysikalischer Forschungskapazitäten in Europa.

1991 wurde das Institut für Physik und Astrophysik schließlich in drei eigenständige Max-Planck-Institute aufgeteilt: die Institute für Physik (MPP), Astrophysik (MPA) und extraterrestrische Physik (MPE). Im gleichen Jahr wurde Rudolf Kippenhahn emeritiert. Nach dem Harnack-Prinzip der Max-Planck-Gesellschaft sollen Max-Planck-Institute immer um die Forschungsprogramme weltweit führender Spitzenforscher herum entstehen, und nur externe Wissenschaftler kommen als Direktoren in Frage. Da es nicht gelungen war, rechtzeitig einen Nachfolger für Kippenhahn zu finden, warf seine Emeritierung einen Schatten über die Zukunft des MPA. Wolfgang Hillebrandt übernahm die kommissarische Leitung des Instituts, während man nach einer Lösung suchte.

Dies alles fand kurz nach der deutschen Wiedervereinigung statt, als sich die Max-Planck-Gesellschaft stark für den Aufbau neuer Institute im Osten Deutschlands engagierte. Die dafür notwendigen Geldmittel sollten durch die Schließung anderer Institute eingespart werden, und das MPA wurde als möglicher Kandidat für eine solche Einsparung angesehen.

Aufbruch unter neuen Vorzeichen

Das Ende des Hoffens und Bangens war 1994 erreicht, als der britische Kosmologe Simon White als neuer Direktor ans MPA kam. Aus der Ungewissheit der vorausgegangenen Jahre wurde eine Lehre gezogen und ein neues Managementsystem eingeführt: Ein Führungsgremium aus mehreren Wissenschaftlichen Mitgliedern löste die Leitung durch einen einzelnen Direktor ab. Nachdem 1995 Rashid Sunyaev neu ans Institut gekommen und zwei Jahre später Wolfgang Hillebrandt zum Direktor ernannt worden war, leiteten zunächst drei Direktoren das MPA. Mit Simon White und Rashid Sunyaev erweiterte sich das Forschungsprogramm grundlegend um die beiden neuen Arbeitsgebiete Kosmologie und Hochenergie-Astrophysik.

Simon Whites Ankunft bedeutete nicht nur eine neue Zukunftsperspektive für das gebeutelte MPA, sondern auch eine spürbare Internationalisierung des damals noch sehr deutschen, patriarchalisch geleiteten Instituts. Heute ist die Forschung des Garchinger Instituts von den Doktoranden bis zu den Direktoren international ausgerichtet. Das MPA arbeitet weltweit mit anderen Top-Institutionen zusammen und schreibt freie Stellen international aus. Der Frauenanteil liegt bei über einem Drittel. Obgleich theoretische und numerische Astrophysik nach wie vor an erster Stelle stehen, spielen inzwischen auch Datenauswertung und interpretierende Forschung eine wichtige Rolle.

In den letzten Jahren ist die rechnerische Astrophysik am MPA genauso international geworden wie die interpretierende Forschung. Seit 1994 hat Simon White eine führende Rolle im Virgo-Consortium inne, einer Gruppe von Kosmologen aus Großbritannien, Kanada, den USA, den Niederlanden, Japan und Deutschland mit dem Ziel, das Wachstum kosmischer Strukturen in Supercomputern zu simulieren. Vor allem dank Volker Springels beachtlicher Fähigkeiten, neue Algorithmen zu entwerfen, zu implementieren und anzuwenden konnte das Konsortium wiederholt mithilfe Garchinger Supercomputer neue Perspektiven in diesem Feld eröffnen.

Die tiefstgreifende Internationalisierung der Arbeitsatmosphäre des MPA kam zweifellos durch die Gründung der International Max Planck Research School on Astrophysics (kurz: IMPRS) an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München im Jahr 2000. Die Research School geht auf eine gemeinsame Initiative des MPE, des MPA, der ESO und des Observatoriums der LMU zurück, und sie hat jetzt eine konstante Zahl von etwa 70 Doktoranden, die eine Reihe allgemeiner Kurse besuchen und eigene Forschungsprojekte in den vier Instituten verfolgen.

 

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