Die Viskosität von heißem Gas in Galaxienhaufen

1. September 2019

Heißes Plasma füllt den gesamten Raum in Galaxienhaufen und macht sie zu starken Quellen für Röntgenstrahlung. Während Dichte und Temperatur dieses Gases leicht gemessen werden können, sind seine Materialeigenschaften wie Viskosität und thermische Leitfähigkeit weitgehend unbekannt. Das Problem ist die wenig verstandene Rolle der schwachen Magnetfelder, die das Gas durchdringen. Solche Felder sind zu schwach, um die Bewegungen des Gases großflächig direkt zu beeinflussen, sie können aber die mikroskopischen Eigenschaften des Plasmas verändern. Jüngste Langzeitbeobachtungen des Coma-Galaxienhaufens im Röntgenbereich haben gezeigt, dass dies tatsächlich der Fall ist: das Verhalten des Gases unterscheidet sich deutlich von den Erwartungen an nicht magnetisiertes Plasma.

Galaxienhaufen sind die massereichsten virialisierten Objekte in unserem Universum. Mehr als 80% ihrer Masse wird von der Dunklen Materie beigesteuert, während ihre Zahlendichte von der Dunklen Energie abhängt, die die Expansion des Universums und das Wachstum von Haufen beeinflusst. Diese Verbindungen zur Dunklen Seite des Universums machen Galaxienhaufen zu einem wichtigen Werkzeug für die Kosmologie. Gleichzeitig ist der größte Teil der normalen (baryonischen) Materie in Haufen in Form eines heißen (100 Millionen Grad) und sehr dünnen (ein Teilchen pro 1000 Kubikzentimeter) Plasmas mit einem schwachen Magnetfeld durchdrungen. Es ist kaum möglich, ein solches Plasma im Labor zu erzeugen und zu untersuchen, aber Galaxienhaufen bieten uns diese Möglichkeit. Insbesondere kennen wir weder Wärmeleitfähigkeit noch Viskosität eines solchen Plasmas, und der Grad der Unsicherheit kann bis zu zehn Größenordnungen betragen.

Diese Unsicherheit impliziert, dass die numerische Modellierung der Eigenschaften und der Entwicklung von Galaxienhaufen möglicherweise nicht das Maß an Genauigkeit erreicht, das zur Identifizierung subtiler Effekte erforderlich ist, die sich z.B. auf nicht-triviale Eigenschaften der Dunklen Materie oder der Dunklen Energie beziehen. In numerischen Simulationen gehen Wissenschaftler oft davon aus, dass sowohl die Wärmeleitung als auch die Viskosität klein sind. Und tatsächlich bietet die Theorie der Plasmaphysik die Möglichkeit, dass Teilchen durch die mikroskopischen Schwankungen des Magnetfeldes so oft gestreut werden, dass Viskosität und Leitfähigkeit sehr gering werden. Eine andere extreme Möglichkeit ist jedoch, dass nur Teilchenkollisionen von Bedeutung sind. In diesem Fall könnten sich die Teilchen im heißen und wenig dichten Plasma von Haufen über große Entfernungen frei bewegen, Impulse zwischen benachbarten Regionen transportieren und das Plasma dadurch sehr viskos machen. Welches dieser beiden Extreme kommt der Realität näher? Die Beantwortung dieser Frage war das Hauptziel sehr langer Beobachtungen des Koma-Haufens mit dem Chandra-Observatorium der NASA. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen wurden im Juni 2019 in der Zeitschrift Nature Astronomy veröffentlicht.

Das Gas im Koma-Haufen ist sehr heiß - fast hundert Millionen Grad und hat eine sehr geringe Dichte, vor allem in Regionen außerhalb des Kerns, die Chandra mehr als zehn Tage lang beobachtet hat (Abb.1). Genau unter diesen Bedingungen ist der mittlere freie Weg der Teilchen sehr lang (zig Kiloparsec) und es wird erwartet, dass Viskosität und Leitfähigkeit Schwankungen der Gasgeschwindigkeit, Temperatur oder Dichte auf ausreichend kleinen räumlichen Skalen ausgleichen. Je höher die Viskosität, desto größer sind die betroffenen Skalen. Durch die Identifizierung der Skalen, bei denen Schwankungen unterdrückt werden, können wir daher die Viskosität ableiten.

Mit der hervorragenden Winkelauflösung von Chandra ist die Messung der Gasdichteschwankungen, die zu Helligkeitsschwankungen in den Röntgenbildern führen, eine einfache Aufgabe (siehe Abb.2). Die Schwankungen im Koma-Haufen liegen genau im Bereich der Skalen, die durch die Viskosität stark beeinflusst werden sollten. Das Vorhandensein von Schwankungen bei diesen kleinen Skalen falsifiziert die Annahme, dass die Plasmaviskosität hoch ist und dass sie durch Partikelkollisionen bestimmt wird. Die gegenteilige Annahme stark unterdrückter Transportkoeffizienten scheint mit den Beobachtungen überein zu stimmen. Daher sind numerische Simulationen, die die Viskosität ignorieren, möglicherweise nicht weit von der Realität entfernt, auch wenn das genaue Rezept für die Modellierung von schwach kollidierendem Plasma in Galaxienhaufen noch nicht gefunden ist. Diese Ergebnisse sind von hohem Stellenwert, da sie zeigen, dass Beobachtungen von Turbulenzen in Galaxienhaufen zu einem neuen Zweig der Astrophysik führen, der die theoretischen Einblicke in solche Plasmen verbessern kann.

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