Galaxienphysik jenseits der Halogrenze

1. März 2019

Modelle der großräumigen Struktur von Galaxien im Universum sind beträchtlichen Einschränkungen unterworfen, wenn beim Virialradius des Halos aus Dunkler Materie künstlich eine Grenze gezogen wird. Wie MPA-Wissenschaftler zeigen, ändert sich die Auswirkung der Umgebung auf Galaxien kontinuierlich, auch an der traditionellen Halogrenze. Umgebungseffekte müssen auch in Regionen mit geringer Dichte berücksichtigt werden.

Unser Verständnis der Entstehung und Entwicklung von Galaxien hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Auf theoretischer Seite waren numerische Simulationen der Schlüssel um nachzuvollziehen, wie großräumige Strukturen in der Dunklen Materie des Universums entstehen und ein kosmisches Netz aus Filamenten, dünnen Schichten und Galaxienhaufen bilden, die große Regionen geringerer Dichte oder Hohlräume umgeben. Galaxien entstehen an den Kreuzungspunkten von Filamenten und Schichten. Hier erreicht das Gas eine ausreichend hohe Dichte, so dass die Wechselwirkungen der Teilchen das Gas kühlen bis der Gasdruck verlorengeht und sich Sterne bilden.

Computersimulationen, die auch die Hydrodynamik des Gases beschreiben, sind rechnerisch sehr aufwändig. Eine wohldefinierte, rechnerisch effiziente Möglichkeit, die Theorie der Galaxienbildung auf ein sehr großes Volumen des Universums anzuwenden, ist die Verwendung semi-analytischer Modelle. Ein solches semi-analytisches Modell wendet eine Reihe von Gleichungen, die die für Galaxien wichtigsten physikalischen Prozesse beschreiben, auf Ergebnisse von Simulationen Dunkler Materie an, genauer gesagt den daraus extrahierten „Halo Merger Trees“. Diese „Bäume“ beschreiben, welche kollabierten Halos miteinander verschmelzen, wenn Strukturen im Universum unter dem Einfluss der Gravitationskraft wachsen. Kombiniert man diese Ergebnisse mit den semi-analytischen Modellen, so können die beobachteten Eigenschaften von Galaxien als Funktion der kosmischen Epoche vorhergesagt werden.

Nachdem das Gas abkühlt, kollabiert es durch die Schwerkraft in Halos aus dunkler Materie und kann rotierende Scheibengalaxien, ähnlich unserer Milchstraße bilden. Daraufhin können Umgebungsprozesse die weitere Entwicklung der Systeme beeinflussen. Direkte Beobachtungen haben gezeigt, dass die Eigenschaften von Galaxien von der Umgebung abhängen, in der sie sich befinden. So zeigt sich beispielsweise aufgrund von Beobachtungen ein Zusammenhang zwischen Morphologie und Dichte: Galaxien in massereichen Haufen zeigen seltener Sternentstehung (sie sind „gequenched“). In einer derart dichten Umgebung wirken starke Gezeiteneffekte aufgrund der Gravitation auf die Galaxien, die dadurch dunkle Materie und Sterne aus ihren äußeren Regionen verlieren. In der Physik ist ein Körper, der sich durch ein flüssiges Medium bewegt, einem Stau- oder dynamischen Druck ausgesetzt, da die relative Strömung der Flüssigkeit eine Zugkraft auf den Körper ausübt. In Galaxiengruppen und -haufen wird dieser Staudruck stark genug, um die gravitative Bindungsenergie des Gases zu überwinden, so dass die Galaxie Gas verliert und die Sternentstehung aufhört.

Eine wichtige Frage, die bisher weitgehend unbeachtet blieb, ist, bei welcher Entfernung vom Zentrum des Galaxienhaufens diese Effekte an Bedeutung gewinnen. Die meisten analytischen und semi-analytischen Modelle der Galaxienentstehung, einschließlich unseres eigenen Modells „L-Galaxies“, nehmen an, dass diese Umgebungseffekte jenseits des Virialradius nicht mehr wichtig sind. Einige Beobachtungsstudien deuten jedoch darauf hin, dass Umgebungsprozesse noch weit über diesen Radius hinaus das Gas und die Sternentstehung in Galaxien beeinflussen können. So erstrecken sich beispielsweise die so genannten „galaktischen Konformitätseffekte“, eine beobachtete großräumige Korrelation zwischen der Sternentstehung in benachbarten Galaxien, auf Entfernungen von mehreren Megaparsec, weit über den Virialradius selbst der massereichsten Haufen hinaus. Zudem deuten hydrodynamische Simulationen darauf hin, dass sich das schockerhitzte Gas eines Halos aus dunkler Materie über seinen Virialradius hinaus erstrecken kann.

Ein realistisches und korrektes Modell der Galaxienbildung und -entwicklung muss Rechenvorschriften für die Auswirkungen der Umgebung auf alle Galaxien in einer Simulation enthalten. Wir entwickelten deshalb eine neue Methode, um die Eigenschaften des lokalen Hintergrundes („Local Background Environment“ oder kurz LBE), einschließlich seiner Dichte und Strömungsbewegung, für jede Galaxie in der Millennium-Simulation zu messen. Die lokalen Hintergrundeigenschaften werden in einer Kugelschale um jede Galaxie herum gemessen. Dabei muss man darauf achten, Simulationsteilchen, die tatsächlich Teil des Hintergrunds sind, von den gravitativ an die Galaxie gebundenen Teilchen zu unterscheiden. Als Beispiel zeigt Abbildung 2 die Geschwindigkeitsverteilung der Teilchen in der Schale um eine der Galaxien in der Simulation. Diese Verteilung kann durch zwei Gauß-Kurven beschrieben werden, so dass eine Dekonvolution der Teilchen (in Hintergrund und gebundene Teilchen) mit Hilfe von Gauß‘schen Mischungsmodellen möglich ist.

In unserer Arbeit haben wir die Eigenschaften des lokalen Hintergrunds als Funktion der Entfernung vom Gruppen- bzw. Haufenzentrum analysiert. Wir zeigen, dass es keine abrupte Änderung der Dichte oder der Strömungsgeschwindigkeit bei einem bestimmten Radius gibt. Dies deutet darauf hin, dass die Auswirkungen der Umgebung auf eine Galaxie über die traditionell angenommene Halogrenze hinweg gleichmäßig variieren. Vorläufige Ergebnisse zeigen zudem, dass das „Stripping“ oder Abziehen von Gas auch für einige Galaxien in Umgebungen mit niedriger Dichte eine unerwartet wichtige Rolle spielen kann, insbesondere dann wenn diese durch eine vorherige, enge Begegnung mit einer anderen Galaxie beschleunigt wurden oder durch Bereiche des kosmischen Netzes fallen. In zukünftigen Arbeiten werden wir die Auswirkungen dieser Ergebnisse auf kosmologische Galaxienstudien sowie auf Modelle für die Entstehung und Entwicklung von Galaxieneigenschaften untersuchen.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht